Dr. med. Adriane Röbe

Akupunktur bei Trauma- und Borderlinepatienten

Dr. med. Adriane Röbe

Akupunktur bei Trauma- und Borderlinepatienten

Aspekte der Beziehungsgestaltung

Die Arbeit mit Akupunktur umfasst in der Regel die Erfassung aller Symptome zur korrekten Diagnosestellung und Behandlung mittels korrekter Punktauswahl. Ein wenig berücksichtigter und reflektierter Aspekt ist jedoch die Beziehungsgestaltung durch nonverbale und verbale Prozesse mit dem Patienten. Sie stellt erfahrungsgemäß einen wichtigen Baustein der Therapie mit Akupunktur dar.

Durch Berücksichtigung verbaler und nonverbaler Anteile neben einer technisch und fachlich guten Akupunkturbehandlung kann sich das Potenzial dieser Therapie besser entfalten. Der universelle 1 Wirkfaktor Beziehung hat großen Anteil an dem Therapieergebnis [1, 2].

Die Wahrnehmung des Patienten bezüglich des Vertrauens in den Therapeuten, seiner Terapie und des Glaubens an die Wirksamkeit wird nicht nur durch die richtige Punktauswahl hergestellt, sondern durch nonverbale und verbale Signale des Terapeuten [3–5]. Ein weiterer universeller Terapiefaktor ist der Ritualcharakter der Akupunkturbe- handlung [5]. Für Menschen, die gravierende Traumata erlitten haben, ist dieser Aspekt jedoch aus bestimmten Gründen noch bedeutsamer und soll hier refektiert werden.

Akupunktur bei Menschen mit Traumata

Um die Besonderheiten der Beziehungsgestaltung bei der Arbeit mit trauma- tisierten Patienten zu betrachten, muss man primär defnieren, worum es sich bei einem Trauma handelt:

Trauma
Ein Trauma ist ein Ereignis, das von der betrefenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es ist das Resultat von physischer oder psychischer Gewalteinwirkung.

Nach ICD-Klassifizierung [6] werden die akuten Reaktionen auf ein Trau- ma, die akute Belastungsreaktion, von der posttraumatischen Belastungsstörung unterschieden. Dabei handelt es sich um ein außerordentlich schweres traumatisches Ereignis. Unmittelbar daran schließt sich in der Regel ein psychischer Ausnahmezustand an (durch verminderte Ansprechbarkeit, Desorientiertheit, unan- gemessene Überaktivität, Umherirren, Taubheitsgefühle, Verzweiflung, Wut und Trauer). In der Regel klingt die Belastungsreaktion nach Stunden bis Tagen ab. Eine posttraumatische Belastungsstörung ist durch die Aufrechterhaltung dieses Ausnahmezustandes defniert.

» Chronischer Stress führt zu negativen Auswirkungen auf die Gesundheit

Traumatische Erlebnisse gehen in der Regel einher mit einer erhöhten Aktivierung des Stresshormonsystems [7, 8] einher. Damit sind Symptome des Hyperarousal (erhöhter Erregungszustand, permanenter Alarmzustand) verbunden. Evolutionstechnisch ist die dabei bestehende erhöhte Wachsamkeit sinnvoll als Schutz vor erneuter Traumatisierung. Hält jedoch dieses Hochfahren der Warnsysteme längere Zeit an, gelingt es also nicht, einen entspannten Zustand wiederzuerlangen, bedeutet das chronischen Stress.

Chronischer Stress führt jedoch zu diversen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit: Nachhallerinnerung oder Albträume in Bezug auf das Ereignis. Eine Vermeidung von Reizen, die die Erinnerung wieder wachrufen. Begleiterscheinungen wie Schlafstörung, Reizbarkeit, Konzentrationsstörung und Schreckhaftigkeit.

In der Folge von traumatischen Erfahrungen können sich diverse körperliche, aber auch psychische Komorbiditäten wie Depression, Angststörung, Suchterkrankungen, impulsive und aggressive Verhaltensweisen bis hin zur Persönlichkeitsstörung (vor allem emotional instabile Persönlichkeitsstörung) entwickeln [9].

Borderlinepersönlichkeitsstörung
Viele Menschen, die eine emotional instabile Persönlichkeit entwickeln, haben in ihrer Kindheit Traumata erlitten. Die wesentlichen Eigenschafen dieser Persönlichkeit sind eine gestörte Beziehungsstruktur (Nähe-Distanz-Problematik), Neigung zu erhöhten Anspannungszuständen mit Selbstverletzung, Suizidgedanken, eine Identitätsproblematik und ein chronisches Leeregefühl. Auch hier kommen gehäuft psychische aber auch physische Komorbiditäten hinzu.

Um die Beziehung zu Menschen mit Traumata auch für eine adäquate Akupunkturbehandlung zu nutzen, sollten einige Aspekte berücksichtigt werden:

Eigenschaften von traumatisierten Menschen
Traumatisierte Menschen sind of sehr sensibel: Sie nehmen sehr viel wahr und sind permanent in Alarmstellung. Entspannung oder das Abgeben von Kontrolle fällt ihnen oft sehr schwer. Gleichzeitig haben viele schon oft Enttäuschungen erlebt. Es besteht eine Nähe-Distanz-Problematik, was teilweise zu einer sehr misstrauischen Grundeinstellung führt, teilweise aber auch zu einem distanzlosen Verhalten.

Aus diesem Wissen ergeben sich folgende Aspekte der Beziehungsgestaltung:

Für eine konventionelle Akupunkturbehandlung

Verbale Kommunikation
Wichtige Aspekte bei der verbalen Kommunikation. Klaren Rahmen setzen, z. B. wie der zeitliche Rahmen und die Behandlung aussehen und mit welcher Unterstützung der Patient rechnen kann. Das schützt den Terapeuten und den Patienten vor Enttäuschungen.

Aufgrund der Unsicherheit der Patienten in der Beziehungsgestaltung sollte der Terapeut Interaktionen defnieren und der Beziehung Struktur geben.

Der Fokus der Akupunkturtherapie liegt meist nicht auf der Traumatisierung. Ob dieses Tema überhaupt in ein ArztPatienten-Gespräch gehört, ist von Fall zu Fall verschieden. Hier muss sich der Terapeut seiner eigenen Möglichkeiten und Grenzen bewusst sein, den Ansprüchen an das Gespräch und an eine adäquate Nähe-Distanz-Beziehung.

Hilfreich sind auch einige grundsätzliche Kenntnisse über Psychodynamik:

Gegenübertragungsphänomene: Die Persönlichkeit der Patienten löst beim Terapeuten unterschiedliche Gefühle aus. Dies ist ein völlig normaler Prozess. Besonders aber bei einem gestörten Nähe-Distanz-Verhalten werden auf beiden Seiten ambivalente Gefühle ausgelöst. Terapeuten sollten sich dessen bewusst sein, um die ausgelösten Gefühle nicht auszuagieren.

Gefühlter Druck durch den Patienten z. B. („Sie müssen mir helfen“, „ich brauche sofort …“) führt oft zu Hilfosigkeit, aber auch zu Verärgerung seitens des Terapeuten. Es ist wichtig, sich dieses Prozesses bewusst zu sein, um nicht seinen eigenen Afekt auszuagieren.

Nonverbale Kommunikation
Ein Hauptaspekt für traumatisierte Patienten ist die nonverbale Kommunikation. Hieraus wird oft das Gefühl für Vertrauen und Sicherheit generiert. Da man nicht alles über den Patienten wissen kann, ist es vor allem wichtig, durch sein eigenes Handeln keine negativen Efekte auszulösen und Patienten eventuell sogar zu retraumatisieren.

In erster Linie sollte man sich bewusst sein, dass Akupunktur ein invasives Terapieverfahren ist.

  1. Gerade bei traumatisierten Patienten sollte hierfür unbedingt das Einverständnis des Patienten bestehen. Die Notwendigkeit des Platzierens eines wichtigen Akupunkturpunktes wird im schlimmsten Fall durch eine erlebte Retraumatisierung des Patienten wieder zerstört.
  2. Da viele Patienten mit sexuellem Missbrauch konfrontiert wurden und Probleme in der Nähe-Distanz haben, empfehlt sich vor allem bei der ersten Behandlung vorsichtig zu sein und z. B. bei der Platzierung der Nadeln zu fragen, ob eine weitere Nadel platziert werden darf. Man sollte vermeiden, dass ein Gefühl des erneuten Ausgeliefert-seins generiert wird.
  3. Ein wichtiger Aspekt bei traumatisierten Patienten ist nicht nur das korrekte Platzieren der Nadeln, sondern der Aspekt der Kontrolle. Ein wichtiger Kontrollaspekt stellt die Wahl der Position des Patienten (Liegen oder Sitzen) und die Lokalisation der Nadeln dar: Nadeltherapie im Sitzen gibt Patienten das Gefühl, mehr Kontrolle zu haben. Auch sollte man sich fragen, ob es notwendig ist an allen Extremitäten Nadeln zu platzieren.
  4. Ein anderer Aspekt ist der körperliche Kontakt des Terapeuten zum Patienten. Der Terapeut sollte sich jeder Geste, jeder Haltung im Raum klar sein, denn diese wird vom Patienten genau registriert. Einige wichtige Aspekte sind hier: die Sicherheit des Terapeuten an sich. Der Terapeut sollte auch seine eigene Körperhaltung und auf Berührungen mit dem Patienten achten. Berührungen an sich können als angenehm oder unangenehm empfunden werden. Einige Patienten werden Berührungen als Schutz und sichere Geste verstehen, einige werden sich aber bedroht fühlen. Dieser Aspekt ist in der Regel kaum klärbar.

Hierzu einige Anregungen:
Ist es notwendig, sich über den Patienten zu beugen, wenn man schlecht an einen Punkt kommt?

Ist es notwendig den Patienten zu „fxieren“, z. B. Kopf festhalten, damit Patient sich nicht bewegt?

Ist es notwendig, den Kopf des Patienten zu drehen, Haare wegzustreichen, Kleidung hochzuschieben oder kann das nicht besser dem Patienten überlassen werden?

Achten Sie auf die Bewegungen zum Patienten hin, Schnelligkeit, Ihre Körperhaltung bei der Arbeit.

Schwere Traumata mit NäheDistanz-Problematik

Für schwertraumatisierte Patienten eignet sich eine normale Körperakupunktur nicht immer. Schwierige Aspekte, zumindest zu Beginn, sind die langen Befragungen, ein Missverhältnis zwischen Kontrolle und Loslassen sowie überhöhte Erwartungen. Für diese Patienten eignet sich entweder ausschließlich oder zu Beginn z. B. die Ohrakupunktur nach dem NADA-Protokoll.

Das NADA-Protokoll
Das NADA-Protokoll ist ein standardisiertes Protokoll von fünf Punkten, die immer in der gleichen Reihenfolge gestochen werden. Die Behandlung fndet in einem festen Ablauf statt. Sie kann im Liegen stattfnden, wird aber klassischerweise im Sitzen in der Gruppe am angezogenen Patienten ohne genaue Diagnosestellung durchgeführt.

» Für traumatisierte Patienten eignet sich dieses Verfahren oft sehr gut

Für traumatisierte Patienten ohne Vertrauen, oft mit erhöhter Schamproblematik, Problemen mit verbalen Terapieverfahren und Angst, eignet sich dieses Verfahren oft sehr gut. Die Patienten erleben hierbei Sicherheit durch ein festgelegtes Ritual, Nonverbalität und eine Kontrollierbarkeit. Es werden keine Ansprüche seitens der Terapeuten gestellt.

Auch Terapeuten, die unsicher sind mit der Tematik von Trauma und Borderlinestörungen, erleben Sicherheit durch eine klare Struktur und übertragen dieses Gefühl auf die Patienten.

Für Terapeuten, die mit dieser Methode vor allem im Gruppensetting arbeiten, sind die nonverbale Beziehung und die Wahrnehmung im Raum von entscheidender Bedeutung, da die Sicherheit, die der Terapeut hier ausstrahlt, von den anderen beobachtet wird.

Traumapatienten mit Komorbiditäten

Traumatisierte Menschen leiden oft an Depressionen und Suchterkrankungen. Bei der Behandlung von Suchterkrankung mit Akupunktur sollte dem Terapeuten bewusst sein, dass Suchtstofe für Patienten oft primär stabilisierend sind. Daher nimmt der Patient ja die gesundheitsgefährdende Komponente in Kauf.

Als Akupunkteur empfehlt es sich hierbei, nicht zu fordernd aufzutreten, die Bedürfnisse und die Ziele des Patienten zu eruieren. Hier muss der Terapeut seine eigene Haltung überprüfen. Die Forderung von Abstinenz bei der Kombination von Trauma und Sucht ist of eher kontraproduktiv.
Die Forderung einiger Akupunkturprinzipien, z. B. Abstinenz zur besseren Sensitivität der Punkte, ist zwar fachlich korrekt. Leider kommt es hierbei oft zu Misserfolgserlebnissen seitens des Terapeuten und des Patienten. Ofist hier eine ofenere Haltung für beide Seiten viel Erfolg versprechender.

Wie ofbei Suchterkrankungen kommt es zu Rückfällen, welche als erneutes Scheitern erlebt werden und die depressive Symptomatik noch weiter verstärken können. Gelegentlich ist es sinnvoller je nach Stabilität des Patienten das Ziel der Abstinenz auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen.

Fazit

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Akupunktur einen guten nonverbalen Zugang zu traumatisierten Patienten bietet, wenn verbale und nonverbale Kommunikationsstrategien berücksichtigt werden.

1 Michael Smith, der Begründer der NADA (National Acupuncture Detoxifcation Association), hat 2015 in einer Rede auf dem Euro-NADA-Kongress zu Recht darauf hingewiesen, dass die häufg gebrauchte Bezeichnung „unspezifsch“ nicht zutrefend ist. „Unspezifsch“ geht mit einer Abwertung einher: „universell“ dagegen beschreibt eine grundlegende Eigenschaft.

Literatur

  1. Beecher HK (1984) Die Placebowirkung als unspezifscher Wirkungsfaktor im Bereich der Krankheit und der Krankenbehandlung. In: Placebo – das universelle Medikament? Paul-Martini-Stiftung, Mainz, S 25–42
  2. Beecher HK (1955) The powerful placebo. JAMA 159:1602–1606
  3. Shapiro AK, Shapiro E (1997) The powerful placebo: from ancient priest to modern physician. Johns Hopkins University Press, Baltimore
  4. Hein P (2013) Das Geheimnis Therapeutischer Wirkung. Auerverlag
  5. Aronson J (1999) When I use a word … Please, please me. BMJ 318:716
  6. Dilling H, Freyberger HJ, WHO (2008) Taschenführer zur ICD-10-Klassifkation psychischer Störungen. Mit Glossar und Diagnostischen Kriterien ICD-10:DCR-10 und Referenztabellen ICD-10 v.s. DSM-IV-TR
  7. Bandelow B et al (2017) Biological markers for anxiety disorders, OCD and PTSD: A consensus statement. Part II: Neurochemistry, neurophysiology and neurocognition. World J Biol Psychiatry 18(3):162–214. https://doi.org/10.1080/15622975. 2016.1190867
  8. Pitman RK, Rasmusson AM, Koenen Orr Gilbertson Milad KCLMSSPMWMR (2016) Biological studies of posttraumatic stress disorder. Nat Rev Neurosci 13(11):769–787. https://doi.org/10.1038/nrn3339
  9. Pietrzak R et al (2013) Psychiatric Comorbidity of full and partial posttraumatic stress disorder among older adults in the united states: results from wave 2 of the national Epidemiologic survey on alcohol and related conditions. Am J Geriatr Psychiatry 20(5):380–390. https://doi.org/10.1097/ JGP.0b013e31820d92e7

Quelle: DZA – Deutsche Zeitschrift für Akupunktur, Heft 1, Februar 2019
Autor: Dr. med. Adriane Röbe, Augsburg